Der Prozess wegen der Autobahnabseilaktion in Schleswig wird am 21.12.2022 um 12.15 Uhr fortgesetzt. Auch dann ist Publikum wieder herzlich willkommen und auch gern mit kreativen Einlagen. Plant ein bisschen Zeit ein, denn am letzten Tag wurde bis 17 Uhr verhandelt. Es wird wahrscheinlich wieder Einlasskontrollen mit Kopien von Personalausweisen geben. Wir freuen uns, wenn ihr euch davon nicht einschüchtern lasst. Wie der erste Verhandlungstag gelaufen ist, lest ihr im Folgenden.
Der Verhandlungstag an diesem 14.12.2022 beginnt vor dem Amtsgericht Schleswig mit etwa 20 Unterstützer:innen. Viele von ihnen sind zusammen angereist und machen sich als erstes vor dem Gerichtsgebäude breit: es werden Transpis ausgepackt, Musik angemacht und im Schnee ein Buffet aufgebaut. Sie frühstücken gemeinsam, bevor der Einlass für Besucher:innen beginnt. Die Angeklagten sind da schon im Gerichtsgebäude – sie haben die Zeit genutzt, um die ihnen zuvor erschwerte Akteneinsicht zu nehmen: reichlich kurzfristig also und jedenfalls nicht ausreichend um einen derart umfangreichen Prozess vorzubereiten.
Doch egal ob angeklagt oder zuschauend, außer den potenziell bewaffneten Zeug:innen mit Dienstausweis der Polizei müssen sich alle, die ins Gerichtsgebäude wollten, erst einmal umfangreichen Datenschutzrechtsverletzungen in Form von Ausweiskopien, einer Taschenkontrolle und einer körperlichen Durchsuchung unterziehen – Gesetze und insbesondere Rechte von einfachen Privatpersonen werden in Gerichten ja bekanntlich nicht immer so wichtig genommen. Die Justizvollzugsbeamt:innen lassen da auch gar nicht mit sich diskutieren. Ist der Ausweis an den Stellen, die die Behörden nichts angehen, mit Klebeband bedeckt, um die Kopie zu schwärzen und einen Datenmissbrauch zu verhindern, werden sie nicht ins Gebäude gelassen und nicht einmal mit ihrem berechtigten Anliegen angehört.
Während sich die Interessierten draußen noch mit dem Wachpersonal und der Polizei streiten, bekommen drinnen schon zwei der Angeklagten das erste Ordnungsgeld aufgebrummt, weil sie es nicht einsehen, aufzustehen, als die Richterin den Saal betritt. Als Reaktion auf das Ordnungsgeld wird beantragt, dieses Ritual abzuschaffen, da (es ohnehin nur Heuchelei bewirke und) Respekt nicht erzwungen werden kann. Im Anschluss beginnt der Prozess. Die Richterin wartet nicht bis alle, die dem Prozess beiwohnen wollen, drinnen sind – von Öffentlichkeit kann also nicht die Rede sein. Die Angeklagten beantragen zunächst eins nach dem anderen Verteidiger:innen aus dem Publikum und diese werden auch zugelassen. Nach diesem Prozedere wollen die Verteidiger:innen erste Anträge stellen bzw. Rügen äußern und werden grob von der Richterin unterbrochen – sie möchte zuerst von der Staatsanwält:innenschaft die Strafbefehle vorgelesen bekommen. Der Staatsanwalt verliest in einem beeindruckendem Tempo viermal den – bis auf einige rotierende Namen – gleichen Strafbefehl. Schon jetzt zeigt sich die Willkür der Richterin, mit der sie Menschen erlaubt, Anträge zu stellen, oder ihnen das Wort erteilt. Die Angeklagten und ihre Verteidiger:innen müssen immer wieder hartnäckig unterbrechen, um wenigstens ein paar der Anträge und Rügen zum richtigen und passenden Zeitpunkt einzubringen. Das zieht sich durch den gesamten weiteren Prozesstag. Die Einlassung der ersten Person wird von der Richterin mehrfach unterbrochen und aufgrund der darin enthaltenen Zitate anderer Personen für unzulässig erklärt. Diese Einlassung zur Sache wird an diesem Tag nicht vollständig verlesen. Die anderen Angeklagten dürfen ihre Einlassungen vollständig vortragen – obwohl auch sie teilweise andere Leute zitieren. In den Einlassungen sprechen die Angeklagten vor allem über die Gefahren des Klimawandels und Autoverkehrs. Einer der Angeklagten greift eine Stellungnahme des Verkehrswissenschaftlers Heiner Monheim (pdf) auf, der sich sowohl mit klima- und umweltbezogenen als auch verkehrsplanerischen Argumenten gegen neue Fernstraßen ausspricht und Verständnis und Bewunderung für die Abseilaktion äußert. Eine weitere Angeklagte zitiert die Aktivistin Kathy Jetñil-Kijiner, die von der Hoffnung spricht, die weltweiter Protest ihr trotz der klimabedingten Zerstörung ihrer Heimat, den Marshall-Inseln, gibt. Außerdem kritisiert eine der Angeklagten die momentan eskalierende Repression von Klimaaktivist*innen, unter Anderem die Verhaftungen der Unfreiwilligen Feuerwehr nach einer Kohlekraftwerksblockade und Präventivhaft für Aktivist:innen in Bayern, weil diese sich auf Straßen hätten festkleben können. Und sie erzählt von der seltenen Stille auf einer sonst viel befahrenen Straße (pdf) – ausgerechnet während einer großen Demo.
Im weiteren Verlauf werden Aktenvollständigkeit und die Unterschrift des Strafbefehls gerügt, ein Aussetzungsantrag wegen des ausstehenden Urteils des Oberlandesgerichts Schleswig bezüglich der Revision eines Freispruch-Urteils nach §34 StGB Rechtfertigender Notstand gestellt, die Einlasskontrollen, der Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung und die nicht vorhandene Öffentlichkeit beanstandet. Denn aufgrund einer richterlichen Verfügung hängt während des Prozesses die Sitzungspolizeiliche Anordnung inklusive aller persönlicher Daten der Angeklagten (also Adresse, Geburtsdaten, Familienstand und Beruf) für jeden einsehbar draußen im Fenster des Gerichts aus. Doch alle Anträge, die während des Prozesses gestellt werden, stellt die Richterin zurück und behält sich vor, später darüber zu entscheiden.
Währenddessen findet draußen eine solidarische Demonstration statt. Eine Person hat eine Versammlung mit einem sogenannten Gehzeug – einem Gestell in Größe eines PKW, das an Riemen über den Schultern getragen wird und so die Absurdität des Platzverbrauchs von Autos darstellt – und diversen anderen Mitteln angemeldet: einmal vom Amtsgericht zum vermeintlichen Tatort auf der Autobahnbrücke und wieder zurück. Das Gehzeug ist so sperrig, dass es auf der Fahrbahn transportiert werden muss: §25 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung sieht das so vor.
Während die Versammlungsteilnehmer:innen ihren Fußmarsch zurücklegen, werden im Gerichtssaal fleißig weitere Anträge gestellt und die Verhandlungsleitung gerügt. Es gibt einen Einstellungsantrag mangels Prozessvoraussetzungen in Form eines Nötigungsopfers, einen wegen etlichen Fehlern im Strafbefehl und einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin als diese einerseits verbietet, weitere Anträge zu stellen, die Angeklagten andererseits aber fortan jedes Mal das Wort beantragen sollen, bevor sie sich äußern. Weitere Anträge und Rügen werden von der Richterin nicht zugelassen, „weil die Hauptverhandlung fortgesetzt werden muss und die Zeugen schon mehrere Stunden warten“. Fließbandjustiz ist also mal wieder wichtiger als Angeklagtenrechte zu wahren.
Es folgt also die Vernehmung des ersten Zeugen durch die Richterin. Eine Angeklagte beanstandet die Vorhaltung von Aktenseiten, um den Zeugen ohne Aktenwissen befragen zu können. Auch dieser Antrag wird abgelehnt. Auch werden zwischenzeitlich Fragen verboten, die für die Verteidigungsstrategie der Angeklagten relevant sind. Außerdem wird der Antrag auf Wortlautprotokollierung der Zeug:innenaussage abgelehnt und dadurch weitere Willkür im Verlauf des Prozesses und der Urteilsfindung ermöglicht. Und schon bald stellt sich die Frage, warum der Zeuge, damalig strellvertretende Leiter des Staatsschutzes in Flensburg, hier überhaupt vernommen wird: Weder war er zum Aktionszeitpunkt vor Ort, sodass er nach eigener Aussage die Geschehnisse „nur vom Hörensagen“ kennt, noch weiß er, worum es eigentlich geht: Um die „Klimawende“? Den Hambacher Forst? Oder doch den Dannenröder? Stattdessen koordinierte er die Strafverfolgung („Einsatzabschnitt Folgemaßnahmen“) aus dem Hintergrund. Angeblich selbst kein Sachbearbeiter, hatte er doch fast alle Berichte – unter anderem wohl auch den fehlerhaften Bericht der Staatsanwaltschaft – gelesen und auch als Chef über die Sachbearbeitung drüber geschaut.
Der zweite Zeuge, ein Autobahnpolizist, der als erstes vor Ort war, wird vernommen – die dritte geladene Zeugin wird derweil schon auf den nächsten Verhandlungstag vertröstet. Die Richterin stört sich nicht daran, dass sie die Verteidigungsstrategie der Angeklagten torpediert, indem sie dem Zeugen Bilder aus der Akte zeigt, bevor die Angeklagten den Zeugen befragen durften. Während der Einführung dieser Bilder tritt auch eine Zuschauerin nach vorne, um die Bilder einzusehen und wird daran von den Justizwachen und der Richterin gehindert. So viel also zum Thema Öffentlichkeit. Wenig später steht eine Zuschauerin still an ihrem Platz, anstatt auf ihrem Stuhl zu sitzen. Dies wird von der Richterin jedoch nicht gestattet – absurd, da sie doch zu Beginn des Prozesses sogar Ordnungsgelder verhängt hat, weil Menschen auf ihren Stühlen saßen und nicht standen. Dass die Justizwachen stehen, stört sie dagegen nicht. Als die Person sich weiterhin nicht auf ihren Stuhl setzen will, wird sie des Saales verwiesen. In der Zwischenzeit hat sich die Anzahl der im Saal befindlichen Justizwachen verdreifacht . Die Person setzt sich also – dies Mal auf den Boden – und wird gewaltsam aus dem Saal geschleift. Zu allem Überfluss erhält sie draußen einen Platzverweis. Die Vernehmung des Zeugen geht weiter. Dieser berichtet, dass sich alle Aktivist*innen friedlich verhalten hätten, nicht über, sondern neben den Fahrspuren hingen und sich auch höhenmäßig außerhalb des Fahrraums befanden. Er erklärt auch, wie die Autobahn normalerweise an den Ab- und Auffahrten gesperrt und der Verkehr von dort umgeleitet wird.
Die Angeklagten haben zwischenzeitlich beantragt, dass auch andere Personen als die Justizwachen stehen dürfen und dass der Gerichtssaal von Schusswaffen befreit werde. Es folgt ein Antrag auf Wiederzulassung der verwiesenen Zuschauerin, da nicht bekannt sei, welche weitere Schikane mit der Person getrieben werde. Auch dieser Antrag wurde, wie fast alle zuvor gestellten, zurückgestellt. Es folgt eine Reihe von weiteren Anträgen und Rügen, die schon längst hätten eingebracht werden sollen, hätte die Richterin dies nicht immer wieder unterbunden. Es wird erst jetzt – viel zu spät im Verfahrenslauf, da die Richterin immer wieder Anträge – unterbrach – gerügt, dass nicht nachvollziehbar ist, ob die Richterin überhaupt für das Verfahren zuständig ist. Außerdem wird beanstandet, dass die Gerichtsbeschlüsse nicht entschieden wurden, dass die Anträge zur Herstellung der Öffentlichkeit nicht rechtzeitig angenommen wurden, dass die Einlassung des zuerst befragten Angeklagten unterbrochen wurde, dass nach den Einlassungen keine Anträge zugelassen wurden, dass die sitzungspolizeiliche Verfügung das Publikum pauschal kriminalisiert, dass das Verfahren von Polizei, Staatsanwält:innenschaft und Gericht so weit verzögert wurde, dass die Verhandlung erst zwei Jahre nach der Aktion stattfindet und dass das Stellungnahmerecht, das die Angeklagten nach jeder Zeug:innenvernehmung gehabt hätten, nicht gewahrt wurde. Außerdem wurde beantragt, dass es beim Zugang keine Sonderregeln für Bullen gibt, dass die interessierten Menschen, die aber ihren Datenschutz ernst nehmen und deswegen draußen bleiben mussten, zugelassen werden und dass während der Verhandlung und im Protokoll gendergerechte Sprache verwendet werden solle. All diese Anträge hätten zu Beginn des Prozesstages gestellt werden sollen oder sogar müssen, was durch die Richterin verhindert wurde.
Alle Unterstützer:innen, die Angeklagten und ihre Verteidiger:innen freuen sich, den Gerichtssaal gegen 17 Uhr endlich verlassen zu dürfen. Einige Unterstützer:innen haben den ganzen Tag bei Minusgraden draußen vor dem Gerichtsgebäude ausgeharrt, weil sie es nicht einsehen, dass das Gericht eine ungeschwärzte und überdies illegale Kopie von ihrem Personalausweis fertigt. Sie alle feiern noch den nachlassenden Stress nach diesem anstrengenden Verhandlungstag bei einer weiteren Gehzeug-Demonstration vom Gericht zum Bahnhof und bekommen unterwegs immer wieder unterstützende Gesten von passierenden Autofahrer:innen.
In einer Woche (21.12.2022) soll das Spektakel um 12:15 Uhr im selben Saal fortgesetzt werden. Herzliche Einladung zum Spektakel!