17.7.24: Erster Tag im Prozess wegen einer Abseilaktion an der Autobahn A 27 anlässlich der Verkehrsministerkonferenz im April 2021 (siehe auch unter: https://autofrei.noblogs.org/post/2021/04/15/6-protestaktion-a27-bremer-kreuz/)
Vor dem Amtsgericht Achim sitzen Menschen vor einem Brettspiel. Die für 12 Uhr angesetzte Verhandlung wird mit deutlicher Verspätung anfangen, noch dürfen wir nichtmal ins Gebäude, und so bleibt noch Zeit für ein Brettspiel. Aber nicht irgendeines, sondern Linie 1. Das ist nämlich nicht nur der Name eines Musicals über die berühmte Berliner U-Bahnlinie, sondern auch der Name eines Brettspiels bei dem es darum geht, Straßenbahnlinien zu bauen. Und eben das wünschen sich die Verkehrswendeaktivist*innen: Dass es in viel mehr Städten Straßenbahnen gibt und dorthin Gelder fließen, statt in Autoproduktion und Straßenbau.
Um kurz vor zwei beginnt dann endlich die Verhandlung. Es werden von beiden angeklagten Personen Laienverteidigungen beantragt, die Staatsanwaltschaft ist dagegen, die Richterin genehmigt beide. Es folgen Einlassungen der Angeklagten, worin diese auf die Absurdität des Vorwurfs eingehen. Der Richterin dauert das alles viel zu lange, sie würde den Vorgang gerne abkürzen. Ihrer Bitte kommen die Angeklagten nicht nach und die Richterin gibt sich geschlagen und erklärt, das mit dem Abkürzen sei „ja nur ein Vorschlag“ von ihr gewesen.
Dann gibt es eine Auseinandersetzung darum, ob die Angeklagten im Publikum Platz nehmen dürfen, damit die geladenen Polizeizeug*innen nicht allein schon aufgrund der suggestiven Wirkung der Sitzordnung dahingehend beeinflusst werden, sich vermeintlich genau an sie zu erinnern. Das lehnt die Richterin ab mit einer Begründung, die wir im weiteren Prozessverlauf noch reichlich oft zu hören kriegen würden: Egal was passiere, läge die Würdigung der Glaubwürdigkeit der Aussagen und Beweismittel allein bei ihr. Das ist formal tatsächlich genau so geregelt und stellt eine der bemerkenswertesten Regelungen im deutschen Justizsystem dar. Wenn eine Zeugin sagt, es habe geregnet, steht es jedem Richter und jeder Richterin vollkommen frei, daraus nach erfolgter Würdigung zum sicheren Ergebnis zu kommen, es sei strahlender Sonnenschein gewesen.
Aber zurück zum Prozess. Der erste Zeuge soll vernommen werden, eine Verteidigerin beantragt, er möge ohne Schusswaffe kommen, die Richterin geht aus dem Saal, stellt fest, dass es im Gericht keinen sicheren Verwahrort dafür gäbe und lehnt den Antrag deswegen ab. Sie betont, von den Zeugen gehe keine Gefahr aus. (https://projektwerkstatt.de/media/text/antirepression_vorlagen_waffen.pdf)
Dem Zeugen streng genommen, denn nur einer der drei geladenen Zeug*innen ist auch erschienen. Er sei Teil der Führungseinheit gewesen, habe zwei Personen entgegengenommen nach deren Räumung und die zur Polizei „verbracht“, wie es so schön heißt bei der Polizei.
Die Richterin liest ihm Teile der Akte vor und fragt, ob er sich jetzt an mehr erinnere. Nein. Der Staatsanwalt fragt nochmal nach, ob er sich wirklich auch jetzt, trotz des Vorhalts der Richterin, immer noch nicht erinnere. Nein. Er habe leider keinen Zugriff auf alle Berichte zu dem Vorgang gehabt und deshalb diese auch nicht zur Vorbereitung auf die Vernehmung lesen können. Der Zeuge wird entlassen und die Richterin bietet ihm explizit an, im Publikum Platz zu nehmen und der weiteren Verhandlung zuzuhören. Viel passiert allerdings nicht mehr zum zuhören und so wird der Prozess nach nicht einmal zwei Stunden vertagt auf den 26.7.24
26.7.24, 9 Uhr. Vor dem Gericht ist dieses Mal ein Verkehrsteppich ausgerollt, wie er in vielen Kinderzimmern zu finden ist. Doch statt Autos auf den Straßen fahren zu lassen, werden dort kurzerhand hölzerne Eisenbahnschienen verlegt und andernorts sitzen kleine Figuren mit Transparenten oder Instrumenten auf den Straßen auf denen nun auch Bäume stehen. Und auch die großen Menschen machen Musik vor dem Gerichtsgebäude bis der einsetzende Regen und der bevorstehende Prozessbeginn dazu führen, dass sie ins Gerichtsgebäude gehen.
Die mit der Aufschrift „Einsatzteam“ versehen Justizwachtmeister*innen haben heute andere Anweisungen als am ersten Verhandlungstag (warum bleibt unklar), gucken diesmal nicht in unsere Schuhe, verwahren aber penibel Trinkflaschen und Handys.
Wie bereits am ersten Verhandlungstag beginnt es mit der Anregung, den suggestiven Charakter der Sitzordnung zu ändern, damit sich Zeug*innen nicht allein schon wegen deren Sitzplatz auf der Anklagebank an die Angeklagten „erinnern“ und wie am ersten Tag wird der Antrag abgelehnt.
Der Zeuge PK Marieschen wird vernommen. Er sei zunächst unter der Brücke mit den Kletternden durchgefahren, ohne sie zu bemerken und habe dann von Kollegen die Info bekommen, dass dort eben doch Leute seien und dann habe er den Verkehr auf der Autobahn vor der Schilderbrücke gedrosselt und angehalten. Mit Hilfe der Feuerwehr sei er dann im Leiterwagen zu den Kletternden und habe diese dann am Boden an andere Polizist*innen übergeben. Ungewollt komisch wirkten Aussagen von ihm wie „Weiß ich nicht, aber es war mit Sicherheit so“, mit denen er sich bemühte zu betonen, dass er zwar keinerlei Erinnerung habe, aber nunmal immer alles so laufe, wie es eben üblicherweise laufe und es deshalb genüge, wenn er berichten könne, wie es eben normalerweise so geschehe. Denn dann sei das „sicherlich“ hier auch so gelaufen. Mit diesem eigentlich-sicherlich-immer-natürlich hatte die Richterin offensichtlich auch kein Problem, sondern fragte sogar noch explizit nach, wie Dinge denn nun „normalerweise“ gemacht würden.
Es geht im folgenden viel darum, warum der Polizist entschieden hatte, die Autobahn zu sperren. Ob er das selbst entschieden hat, oder von den Kolleg*innen die Anweisung dazu bekam weiß er nicht mehr, betont aber, er selber hätte es in jedem Falle gemacht, Einschätzung der Kolleg*innen hin oder her. Das sei in diesem konkreten Fall nach seiner Einschätzung notwendig gewesen, weil die Ablenkung der Autofahrer*innen ein Unfallrisiko darstelle und außerdem auch Sturzgefahr für die Kletternden bestünde. Eigene Sachkunde bezüglich Klettern, so sagte er, habe er keine und untermauerte diese Aussage indem er berichtete, die Kletternden hätten den Menschen oben auf der Brücke Kommandos gegeben, „dass sie abgelassen werden wollen“.
Es ging dann um Rettungsgassen und Spurbreiten bis die Staatsanwaltschaft meinte unterbrechen zu müssen, weil es sich um ein unzulässiges Kreuzverhör handle bei den Fragen der Angeklagten. Eine längere Debatte um Sinn und Unsinn von Vorgaben beim Fragerecht konnte auch nicht dadurch beendet werden, dass der Zeuge selbst sagte, ihn störe diese Art der Vernehmung nicht, und so wurde noch etwas weiter gestritten. Zeitweise baten die Angeklagten vor jeder Frage explizit um Erteilung des Wortes durch die zu Zivilisiertheit und Ordnung mahnende Richterin, bis schließlich alle Seiten pragmatisch wieder weiter so fragten, wie es vor Beginn der Debatte auch gut funktioniert hatte.
Nach Entlassung des Zeugen folgte eine bemerkenswerte Stellungnahme des Angeklagten zu den in Augenschein genommenen Bildern. Auf diesen soll der angeblich durch die Aktion am Schild verursachte Schaden zu sehen sein. Doch die vermeintlich beschädigten Bereiche, die nur bei Gegenlicht im Dunklen erkennbar sind, haben deutlich erkennbar ganz andere Formen als die von den Aktivist*innen damals auf dem Schild angebrachten Aufkleber. Damit können es auch nicht diese Klebereste (wenn es sie denn überhaupt gegeben hat) gewesen sein, die zu den sichtbaren Veränderungen nachts führten. Die Richterin kündigt an, ihr genüge zur Feststellung des Schadens die Verlesung einer einzigen Seite aus der Akte (bei einem weiteren Verhandlungstermin). Auf Widerspruch von Angeklagten und Verteidigung versuchte sie dann aber die Debatte darum zu unterbinden, indem sie darauf verwies, zunächst solle vor Ermittlung des Schadens doch die Tat aufgeklärt werden. Das wäre zwar logisch, aber sie war es, die das Thema auf den Tisch brachte, zumal sie es tat indem sie ankündigte, dazu faktisch keine Beweiserhebung machen zu wollen. Dass dieses Thema größer ist, als sie denkt, wird sie vermutlich erst frühestens im nächsten Termin verstehen. Und wenn ihr es auch erfahren wollt: die Verhandlung am 2. August um 8.30 am Amtsgericht Achim ist wie immer öffentlich.
Angeklagte und Verteidigung beantragen in der Folge die Aussetzung des Verfahrens, weil drei geladene Zeug*innen ihnen im Vorfeld nicht mitgeteilt (auf juristisch „namhaft gemacht“) worden waren. Die Richterin sagt, das sei ihr ja auch nicht möglich gewesen, weil sie keine Telefonnummern habe, im Publikum fragen sich Leute, ob sie nicht auch Briefe hätten schicken können und dann eben im Zweifel einen späteren Termin hätte ansetzen müssen, der Vorbereitung erlaubt hätte. Am Vortag, als der Angeklagte schon im Zug nach Achim saß, habe er (als einziger der vier zu informierenden Menschen) außerdem ja schließlich eine Mail erhalten. Außerdem stünden die Zeug*innen ja auch in der Akte und überhaupt seien deren Berichte nicht lang und eine halbe Stunde Pause müsse zur Vorbereitung reichen. Die erhielten Angeklagte und Verteidigung dann auch, bevor es zu zwei denkbar unspektakulären Vernehmungen kam, da sich der erste Zeuge nur daran erinnerte, eine ihm übergebene Person zur Wache gefahren zu haben und der zweite lediglich auf einer Brücke in einiger Entfernung neben einem Pressefotografen gestanden hatte, um von dort Fotos zu fertigen, deren Rohdaten es nicht mehr gebe. Die dritte als Zeugin geladene Polizistin wurde, auch aus Zeitgründen, ohne Vernehmung nach Hause geschickt und wird beim nächsten Termin erneut geladen.
Damit endete der zweite Verhandlungstag, Fortsetzung war am 2. August um 8.30, ein Bericht dazu folgt separat. Weiter geht es am 9. August um 8.30 Uhr wie bisher im Hauptgebäude am Amtsgericht Achim sowie am 29.8. um 8.30. Uhr in der Nebenstelle des Gerichts.