Flensburg: Good Judge – Bad Judge? Bericht vom zweiten Prozesstag der Berufungsverhandlung

Vorab: Der Prozess um die Autobahnabseilaktion über der A7 bei Schleswig geht am 15.8. vor dem Landgericht Flensburg weiter, allerdings dann nur mit einen kurzen Schiebetermin. Eine weite Anreise lohnt nicht. Wenn ihr mehr mitbekommen möchtet, kommt gerne wieder am 29.8.2024 (Donnerstag) vorbei!

Auf den 1. August 2024 fiel der globale #EarthOvershootDay. Das Datum markiert symbolisch, dass die Menschheit an diesem Tag die Ressourcen der Erde verbraucht hatte, die im Jahr 2024 zur Verfügung standen, und fortan Raubbau an der Natur betreibt, von dem sich die Ökosysteme des Planeten nicht mehr regenerieren können. Am Landgericht Flensburg fand währenddessen der zweite Termin des Berufungsprozess statt. In dem Prozess streiten die Angeklagten dafür, dass Autobahnprotest für eine Verkehrswende möglich bleibt – ohne Bestrafung für irgendwen.

Transpis und Picknickrunde im Sonnenschein vor dem Landgericht Flensburg. Auf den drei Transpis steht: "Kein Baum ist Egal", "Autobahn stoppen!" und "Mobile Einsatzgruppe Justiz: Wir treten mit Schlagstock und Handschellen in blindem Gehorsam für eine gerechtere Welt ein"
Transpis und Picknickrunde im Sonnenschein vor dem Landgericht Flensburg
O-Ton einer Angeklagten kurz vor Beginn des Termins: „Weißt du was, es kann nicht schlimmer werden. Nee, echt nicht.“ Und tatsächlich: Beim Eintreten von Richter und Schöffinnen blieben alle im Raum unbeeindruckt und niemand stand auf. Richter Meppen trat nun völlig verändert ganz sweet und kooperativ auf.
Ein Plüschmarder und Zettel: „Autobahn du rollende Langeweile du endlose CO2-Schleuder“, „Autobahn du asphaltierter Albtraum du öder Lebensraumkiller“ und „Autobahn du elender Hitzebrüter du betonierter Biodiversitätskiller“

Während auf ihrem Laptop ein Zettel mit der Aufschrift „Autobahn du elender Hitzebrüter du betonierter Biodiversitätsfresser“ prangte, verlas die vierte Angeklagte ihre Einlassung zur Sache. Darin wurden Auswirkungen des motorisierten Verkehrs auf ihr Leben und auf unsere Gesellschaft thematisiert. Neben Skizzen wie die Welt viel schöner und lebenswerter mit weniger Verkehr aussähe, ging sie auf die Geschehnisse des ersten Prozesstages ein. Dazu gehörten nicht nur Kritik an Gericht und Staat, sondern auch die Erfahrungen und Gedanken aus der Ordnungshaft. Die so vermittelten Emotionen von Wut und Hass auf ein System, das Menschen einsperrt, bewegten nahezu alle im Raum. Nach der viertelstündigen Einlassung – ruhig, bestimmt und ohne Unterbrechung vorgetragenen – gab es auch kräftigen Applaus von den Zuhörer*innen.

Nach einer Pause wurde als Zeuge der damals stellvertretender Leiter der politischen Polizei  (des sogenannten Staatsschutzes) in Flensburg vernommen, dem vom Richter auch bemerkenswert kritische Fragen zu dem Nötigungskonstrukt gestellt wurden. Eine Reihe weiterer Fragen hatten die Angeklagten an den Zeugen, der zwar die Aktion weder gesehen noch gehört hatte, aber zu allem seine Meinung zum besten gab. Allein die Frage, ob er je gegen das Kraftfahrtbundesamt in Flensburg, das eigentlich Abgaswerte überprüfen soll, wegen dessen Nähe zur Autoindustrie ermittelt habe, verschlug ihm für einen Moment die Sprache und seine Antwort blieb ein kurz angebundenes „nein“. Vom Richter als unzulässig unterbunden wurden eine Frage zum Agieren der Polizei bei den sog. „Bauernprotesten“ auf Autobahnen, die Fragen nach den Umwelt- und Klimaauswirkungen von Autoverkehr und ob dem Zeugen bekannt sei, wie viele Verkehrstote es täglich gibt. Letzteres wurde durch die fragende Person beanstandet. Highlights bei den Antworten waren „Also, ich glaube nicht, dass die Aktivisten lebensmüde sind“ und „Das hab ich bestimmt, aber das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Lustig war auch die Begründung, warum an einem anderen Tag eine Abseilaktion über einer Schnellstraße nicht mit einer Polizeiabperrung geendet haben soll – „das war nur eine Übung, da hatten die keine Transpis dabei“.
Da die Zeit knapp war, konnten nur die ersten zwei der vier Angeklagten ihre Fragen an den Zeugen richten, sodass er noch einmal eingeladen werden muss. So wurde kurz vor Schluss nur noch im Block etwa ein Dutzend Anträge der Verteidigung vom ersten Prozesstag abgelehnt, unter anderem zur Einstellung des Verfahrens und zur Beendigung der Einlasskontrollen. Denn auch am zweiten Tag waren Menschen wieder aufgrund ihrer Geschlechtsidentität nicht in den Gerichtssaal gelassen worden: Diese waren gewappnet mit Geburtsurkunde, Ausweis und einer schriftlicher Bescheinigung des MEG-Boss aufgetaucht, in der ihnen garantiert worden war im Falle einer körperlichen Durchsuchung von einer*m Ärzt*in abgetastet zu werden. Dafür interessierten sich die Justizvertreter*innen so wenig, dass sie eine Person, die das Problem klären wollte, kurzerhand gewaltsam aus dem Eingangsbereich schleiften.
Dass der Richter am zweiten Prozesstag geradezu zuvorkommend auftrat, kann als perfide Doppelzüngigkeit betrachtet werden, hatte er doch beim ersten Termin zur Machtdemonstration und Einschüchterung einer der Angeklagten völlig unverhältnismäßig sofortige einwöchige Ordnungshaft verhängt und nahezu alle Zuschauer*innen binnen Minuten des Gerichts verwiesen. Als der Prozesstag um 15:45 Uhr endete, konnten diesmal alle wieder nach Hause fahren. Um uns weiter gegen die Kriminalisierung von ungehorsamen Klimaprotest zu verteidigen, sehen wir uns vor dem Landgericht in Flensburg  vielleicht am 15.8. und sicher am 29.8. wieder!